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Die Vorstellung, daß Züpfner Marie beim Ankleiden zuschauen könnte oder zusehen darf, wie sie den Deckel auf die Zahnpastatube schraubt, machte mich ganz elend. Mein Bein schmerzte, und es kamen mir Zweifel, ob ich auf der dreißig-bis-fünfzig-Mark- Ebene noch eine Chance zum Tingeln gehabt hätte. Mich quälte auch die Vorstellung, daß Züpfner überhaupt nichts dran lag, Marie beim Zuschrauben der Zahnpastatuben zuzuschauen: meiner bescheidenen Erfahrung nach haben Katholiken nicht den geringsten Sinn für Details. Ich hatte Züpfners Telefonnummer auf meinem Blatt stehen, war noch nicht gewappnet, diese Nummer zu wählen. Man weiß nie, was ein Mensch unter weltanschaulichem Zwang alles tut, und vielleicht hatte sie Züpfner wirklich geheiratet, und Maries Stimme am Telefon sagen zu hören: Hier Züpfner - ich hätte es nicht ertragen. Um mit Leo telefonieren zu können, hatte ich unter Priesterseminaren im Telefonbuch gesucht, nichts gefunden, und ich wußte doch, daß es diese beiden Dinger gab: Leoninum und Albertinum. Schließlich fand ich die Kraft, den Hörer aufzunehmen und die Nummer der Auskunft zu wählen, ich bekam sogar Anschluß, und das Mädchen, das sich meldete, sprach sogar mit rheinischem Tonfall. Manchmal sehne ich mich danach, rheinisch zu hören, so sehr, daß ich von irgendeinem Hotel aus eine Bonner Telefondienststelle anrufe, um diese vollkommen unmartialische Sprache zu hören, der das R fehlt, genau der Laut, auf dem die militärische Disziplin hauptsächlich beruht.

Ich hörte das »Bitte warten« nur fünfmal, dann meldete sich schon ein Mädchen, und ich fragte sie nach diesen »Dingern, in denen katholische Priester ausgebildet werden«; ich sagte, ich hätte unter Priesterseminaren nachgesehen, nichts gefunden, sie lachte und sagte, diese »Dinger« - sie sprach dabei sehr hübsch die

Anführungszeichen - hießen Konvikte, und sie gab mir die Nummern von beiden. Die

stimme am Telefon hatte mich ein bißchen getröstet. Sie hatte so natürlich geklungen, nicht prüde, nicht kokett, und sehr rheinisch. Es gelang mir sogar, die Telegrammaufnahme zu bekommen und das Telegramm an Karl Emonds aufzugeben. Es ist mir immer unverständlich gewesen, warum jedermann, der für intelligent gehalten werden möchte, sich bemüht, diesen Pflichthaß auf Bonn auszudrücken. Bonn hat immer gewisse Reize gehabt, schläfrige Reize, so wie es Frauen gibt, von denen ich mir vorstellen kann, daß ihre Schläfrigkeit Reize hat. Bonn verträgt natürlich keine Übertreibung, und man hat diese Stadt übertrieben. Eine Stadt, die keine Übertreibung verträgt, kann man nicht darstellen: immerhin eine seltene Eigenschaft. Es weiß ja auch jedes Kind, daß das Bonner Klima ein Rentnerklima ist, es bestehen da Beziehungen zwischen Luft- und Blutdruck. Was Bonn überhaupt nicht steht, ist diese defensive Gereiztheit: ich hatte zu Hause reichlich Gelegenheit, mit Ministerialbeamten, Abgeordneten, Generalen zu sprechen - meine Mutter ist eine Partytante -, und sie alle befinden sich im Zustand gereizter, manchmal fast weinerlicher Verteidigung. Sie lächeln alle so verquält ironisch über Bonn. Ich verstehe dieses Getue nicht. Wenn eine Frau, deren Reiz ihre Schläfrigkeit ist, anfinge, plötzlich wie eine Wilde Can-Can zu tanzen, so könnte man nur annehmen, daß sie gedopt wäre - aber eine ganze Stadt zu dopen, das gelingt ihnen nicht. Eine gute alte Tante kann einem beibringen, wie man Pullover strickt, Deckchen häkelt und Sherry serviert - ich würde doch nicht von ihr erwarten, daß sie mir einen zweistündigen geistreichen und verständnisvollen Vortrag über Homosexualität hält oder plötzlich in den Nutten-Jargon verfällt, den alle in Bonn so schmerzlich vermissen. Falsche Erwartungen, falsche Scham, falsche Spekulation auf Widernatürliches. Es würde mich nicht wundern, wenn sogar die Vertreter des Heiligen Stuhls anfingen, sich über Nuttenmangel zu beklagen. Ich lernte bei einer

der Parties zu Hause einmal einen Parteimenschen kennen, der in einem Ausschuß zur

fung der Prostitution saß und sich bei mir flüsternd über den Nuttenmangel in Bonn beklagte. Bonn war vorher wirklich nicht so übel mit seinen vielen engen Gassen, Buchhandlungen, Burschenschaften, kleinen Bäckereien mit einem Hinterzimmer, wo man Kaffee trinken konnte.

Bevor ich Leo anzurufen versuchte, humpelte ich auf den Balkon, um einen Blick auf meine Heimatstadt zu werfen. Die Stadt ist wirklich hübsch: das Münster, die Dächer des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses, das Beethovendenkmal, der kleine Markt und der Hofgarten. Bonns Schicksal ist es, daß man ihm sein Schicksal nicht glaubt. Ich atmete in vollen Zügen oben auf meinem Balkon die Bonner Luft, die mir überraschenderweise wohltat: als Luftveränderung kann Bonn für Stunden Wunder wirken.

Ich ging vom Balkon weg, ins Zimmer zurück und wählte, ohne zu zögern, die Nummer des Dings, in dem Leo studiert. Ich war bange. Seitdem er katholisch geworden ist, habe ich Leo noch nicht gesehen. Er hat mir die Konversion auf seine kindlich korrekte Art mitgeteilt: »Lieber Bruder«, schrieb er, »teile ich Dir hierdurch mit, daß ich nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluß gekommen bin, zur katholischen Kirche überzutreten und mich auf den Priesterberuf vorzubereiten. Gewiß werden wir bald Gelegenheit haben, uns mündlich über diese entscheidende Veränderung in meinem Leben zu unterhalten. Dein Dich liebender Bruder Leo.« Schon die altmodische Art, wie er krampfhaft versucht, den Brief beginn mit Ich zu umgehen; statt: ich teile Dir mit, teile ich Dir mit, schreibt - das war ganz Leo. Nichts von der Eleganz, mit der er Klavier spielen kann. Diese Art, alles geschäftsmäßig zu erledigen, steigert meine Melancholie. Wenn er so weitermacht, wird er einmal ein edler, weißhaariger Prälat. In diesem Punkt - im Briefstil - sind Vater und Leo gleich hilflos: sie schreiben über alles, als ob es um Braunkohle ginge.

Es dauerte lange, ehe sich in dem Ding jemand bequemte, ans Telefon zu kommen,

liche Schlamperei, meiner Stimmung entsprechend, mit harten Worten zu brandmarken, sagte »Scheiße«, da hob dort jemand den Hörer ab, und eine überraschend heisere Stimme sagte: »Ja?« Ich war enttäuscht. Ich hatte mit einer sanf- ten Nonnenstimme gerechnet, mit dem Geruch schwachen Kaffees und trockenen Kuchens, statt dessen: ein krächzender Mann, und es roch nach Krüllschnitt und Kohl, auf eine so penetrante Art, daß ich anfing zu husten.

»Pardon«, sagte ich schließlich, »könnte ich den Studenten der Theologie Leo Schnier sprechen?«

»Mit wem spreche ich?«


»Schnier«, sagte ich. Offenbar ging das über seinen Horizont. Er schwieg lange, ich fing wieder an zu husten, faßte mich und sagte: »Ich buchstabiere: Schule, Nordpol, Ida, Emil, Richard.«

»Was soll das?« sagte er schließlich, und ich glaubte, aus seiner Stimme soviel Verzweiflung zu hören, wie ich empfand. Vielleicht hatten sie einen netten alten, pfeiferauchenden Professor dort ans Telefon gesteckt, und ich kramte in aller Eile ein paar lateinische Vokabeln zusammen und sagte demütig: »Sum frater leonis.« Ich kam mir unfair dabei vor, ich dachte an die vielen, die vielleicht hin und wieder den Wunsch verspürten, jemand dort zu sprechen, und die nie ein lateinisches Wort gelernt hatten.

Merkwürdigerweise kicherte er jetzt und sagte: »Frater turn est in refectorio - beim Essen«, sagte er etwas lauter, »die Herren sind beim Essen, und während des Essens darf nicht gestört werden.«

»Die Sache ist sehr dringend«, sagte ich.


»Todesfall?« fragte er.


»Nein«, sagte ich, »aber fast.«


»Also schwerer Unfall?«

legenheit.« Offenbar war das ein Fremdwort für ihn, er schwieg auf eine eisige Weise.

»Mein Gott«, sagte ich, »der Mensch besteht doch aus Leib und Seele.«


Sein Brummen schien Zweifel an dieser Behauptung auszudrücken, zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife murmelte er: »Augustin - Bonaventura - Cusanus - Sie sind auf dem falschen Wege.«

»Seele«, sagte ich hartnäckig, »bitte richten Sie Herrn Schnier aus, die Seele seines Bruders sei in Gefahr, und er möge, sobald er mit dem Essen fertig ist, anrufen.«

»Seele«, sagte er kalt, »Bruder, Gefahr.« Er hätte genausogut : Müll, Mist, Melkeimer sagen können. Mir kam die Sache komisch vor: immerhin wurden die Studenten dort zu zukünftigen Seelsorgern ausgebildet, und er mußte das Wort Seele schon einmal gehört haben. »Die Sache ist sehr, sehr dringend«, sagte ich.

Er machte nur »Hm, hm«, es schien ihm vollkommen unverständlich, daß etwas, das mit Seele zusammenhing, dringend sein könnte.

»Ich werde es ausrichten«, sagte er, »was war das mit der Schule?«


»Nichts«, sagte ich, »gar nichts. Die Sache hat nichts mit Schule zu tun. Ich habe das Wort lediglich benutzt, um meinen Namen zu buchstabieren.«

»Sie glauben wohl, die lernen in der Schule noch buchstabieren. Glauben Sie das im Ernst?« Er wurde so lebhaft, daß ich annehmen konnte, er habe endlich sein Lieblingsthema erreicht. »Viel zu milde Methoden heute«, schrie er, »viel zu milde.«

»Natürlich«, sagte ich, »es müßte viel mehr Prügel in der Schule geben.«


»Nicht wahr«, rief er feurig.


»Ja«, sagte ich »besonders die Lehrer müßten viel mehr Prügel kriegen. Sie denken doch daran, meinem Bruder die Sache auszurichten?«


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»Schon notiert«, sagte er, »dringende seelische Angelegenheit. Schulsache. Hören Sie, junger Freund, darf ich Ihnen als der zweifellos Ältere einen wohlgemeinten Rat geben?«

»Oh, bitte«, sagte ich.


»Lassen Sie von Augustinus ab: geschickt formulierte Subjektivität ist noch lange nicht Theologie und richtet in jungen Seelen Schaden an. Nichts als Journalismus mit ein paar dialektischen Elementen. Sie nehmen mir diesen Rat nicht übel?«

»Nein«, sagte ich, »ich gehe auf der Stelle hin und schmeiß meinen Augustinus ins Feuer.«

»Recht so «, sagte er fast jubelnd, »ins Feuer damit. Gott mit Ihnen.« Ich war drauf und dran, danke zu sagen, aber es kam mir unangebracht vor, und so legte ich einfach auf und wischte mir den Schweiß ab. Ich bin sehr geruchsempfindlich, und der intensive Kohlgeruch hatte mein vegetatives Nervensystem mobilisiert. Ich dachte auch über die Methoden der kirchlichen Behörden nach: es war ja nett, daß sie einem alten Mann das Gefühl gaben, noch nützlich zu sein, aber ich konnte nicht einsehen, daß sie einem Schwerhörigen und so schrulligen alten Knaben ausgerechnet den Telefondienst übergaben. Den Kohlgeruch kannte ich vom Internat her. Ein Pater dort hatte uns mal erklärt, daß Kohl als sinnlichkeitsdämpfend gelte. Die Vorstellung, daß meine oder irgend jemandes Sinnlichkeit gedämpft wurde, war mir ekelhaft. Offenbar denken sie dort Tag und Nacht nur an das »fleischliche Verlangen«, und irgendwo in der Küche sitzt sicherlich eine Nonne, die den Speisezettel aufsetzt, dann mit dem Direktor darüber spricht, und beide sitzen sich dann gegenüber und sprechen nicht darüber, aber denken bei jeder Speise, die auf dem Zettel steht: das hemmt, das fördert die Sinnlichkeit. Mir erscheint eine solche Szene als ein klarer Fall von Obszönität, genau wie dieses verfluchte, stundenlange

Fußballspielen im Internat; wir wußten alle, daß es müde machen sollte, damit wir

kämen, das machte mir das Fußballspielen widerlich, und wenn ich mir vorstelle, daß mein Bruder Leo Kohl essen muß, damit seine Sinnlichkeit gedämpft wird, möchte ich am liebsten in dieses Ding gehen und über den ganzen Kohl Salzsäure schütten. Was die Jungen da vor sich haben, ist auch ohne Kohl schwer genug: es muß schrecklich schwer sein, jeden Tag diese unfaßbaren Sachen zu verkündigen: Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Im Weinberg des Herrn herumzuackern und zu sehen, wie verflucht wenig Sichtbares da herauskommt. Heinrich Behlen, der so nett zu uns war, als Marie die Fehlgeburt hatte, hat mir das alles einmal erklärt. Er bezeichnete sich mir gegenüber immer als »ungelernter Arbeiter im Weinberg des Herrn, sowohl was die Stimmung wie was die Bezahlung anbetrifft«.

Ich brachte ihn nach Haus, als wir um fünf aus dem Krankenhaus weggingen, zu Fuß, weil wir kein Geld für die Straßenbahn hatten, und als er vor seiner Haustür stand und den Schlüsselbund aus der Tasche zog, unterschied er sich in nichts von einem Arbeiter, der von der Nachtschicht kommt, müde, unrasiert, und ich wußte, es mußte schrecklich für ihn sein: jetzt die Messe zu lesen, mit all den Geheimnissen, von denen Marie mir immer erzählte. Als Heinrich die Tür aufschloß, stand seine Haushälterin da im Flur, eine mürrische alte Frau, in Pantoffeln, die Haut an ihren nackten Beinen ganz gelblich, und nicht einmal eine Nonne, und nicht seine Mutter oder Schwester; sie zischte ihn an: »Was soll das? Was soll das?« Diese ärmliche Junggesellenmuffigkeit; verflucht, mich wundert's nicht, wenn manche katholi- schen Eltern Angst haben, ihre jungen Töchter zu einem Priester in die Wohnung zu schicken, und mich wundert's nicht, wenn diese armen Kerle manchmal Dummheiten machen.

Fast hätte ich den schwerhörigen alten Pfeifenraucher in Leos Konvikt noch einmal angerufen: ich hätte mich gern mit ihm über das fleischliche Verlangen

unterhalten. Ich hatte Angst, einen von denen anzurufen, die ich kannte: dieser Un-

bekannte würde mich wahrscheinlich besser verstehen. Ich hätte ihn gern gefragt, ob meine Auffassung vom Katholizismus richtig sei. Es gab für mich nur vier Katholiken auf der Welt: Papst Johannes, Alec Guinness, Marie und Gregory, einen altgewordenen Negerboxer, der fast einmal Weltmeister geworden wäre und sich jetzt in Varietes kümmerlich als Kraftmensch durchschlug. Hin und wieder im Turnus der Engagements traf ich ihn. Er war sehr fromm, richtig kirchlich, gehörte dem Dritten Orden an und trug sein Skapulier immer vorne auf seiner enormen Boxerbrust. Die meisten hielten ihn für schwachsinnig, weil er fast kein Wort sprach und außer Gurken und Brot kaum etwas aß; und doch war er so stark, daß er mich und Marie auf seinen Händen wie Puppen vor sich her durchs Zimmer tragen konnte. Es gab noch ein paar Katholiken mit ziemlich hohem Wahrscheinlichkeitsgrad : Karl Emonds und Heinrich Behlen, auch Züpfner. Bei Marie fing ich schon an zu zweifeln: ihr

»metaphysischer Schrecken« leuchtete mir nicht ein, und wenn sie nun hinging und mit Züpfner all das tat, was ich mit ihr getan hatte, so beging sie Dinge, die in ihren Büchern eindeutig als Ehebruch und Unzucht bezeichnet wurden. Ihr metaphysischer Schrecken bezog sich einzig und allein auf meine Weigerung, uns standesamtlich trauen, unsere Kinder katholisch erziehen zu lassen. Wir hatten noch gar keine Kinder, sprachen aber dauernd darüber, wie wir sie anziehen, wie wir mit ihnen sprechen, wie wir sie erziehen wollten, und wir waren uns in allen Punkten einig, bis auf die katholische Erziehung. Ich war einverstanden, sie taufen zu lassen. Marie sagte, ich müsse es schriftlich geben, sonst würden wir nicht kirchlich getraut. Als ich mich mit der kirchlichen Trauung einverstanden erklärte, stellte sich heraus, daß wir auch standesamtlich getraut werden mußten - und da verlor ich die Geduld, und ich sagte, wir sollten doch noch etwas warten, jetzt käme es ja wohl auf ein Jahr nicht mehr an, und sie weinte und sagte, ich verstünde eben nicht, was es für sie bedeute, in diesem

Zustand zu leben und ohne die Aussicht, daß unsere

Kinder christlich erzogen würden. Es war schlimm, weil sich herausstellte, daß wir in diesem Punkt fünf Jahre lang aneinander vorbeigeredet hatten. Ich hatte tatsächlich nicht gewußt, daß man sich staatlich trauen lassen muß, bevor man kirchlich getraut wird. Natürlich hätte ich das wissen müssen, als erwachsener Staatsbürger und

»vollverantwortliche männliche Person«, aber ich wußte es einfach nicht, so wie ich bis vor kurzem nicht wußte, daß man Weißwein kalt und Rotwein angewärmt serviert. Ich wußte natürlich, daß es Standesämter gab und dort irgendwelche Trauungszeremonien vollzogen und Urkunden ausgestellt wurden, aber ich dachte, das wäre eine Sache für unkirchliche Leute und für solche, die sozusagen dem Staat eine kleine Freude machen wollten. Ich wurde richtig böse, als ich erfuhr, daß man dorthin mußte, bevor man kirchlich getraut werden konnte, und als Marie dann noch davon anfing, daß ich mich schriftlich verpflichten müsse, unsere Kinder katholisch zu erziehen, bekamen wir Streit. Das kam mir wie Erpressung vor, und es gefiel mir nicht, daß Marie so ganz und gar einverstanden mit dieser Forderung nach schriftlicher Abmachung war. Sie konnte ja die Kinder taufen lassen und sie so erziehen, wie sie es für richtig hielt.

Es ging ihr schlecht an diesem Abend, sie war blaß und müde, sprach ziemlichlaut mit mir, und als ich dann sagte, ja, gut, ich würde alles tun, auch diese Sachen unterschreiben, wurde sie böse und sagte: »Das tust du jetzt nur aus Faulheit, und nicht, weil du von der Berechtigung abstrakter Ordnungsprinzipien überzeugt bist«, und ich sagte ja, ich täte es tatsächlich aus Faulheit und weil ich sie gern mein ganzes Leben lang bei mir haben möchte, und ich würde sogar regelrecht zur katholischen Kirche übertreten, wenn es nötig sei, um sie zu behalten. Ich wurde sogar pathetisch und sagte, ein Wort wie »abstrakte Ordnungsprinzipien« erinnere mich an eine Folterkammer. Sie empfand es als Beleidigung, daß ich, um sie zu behalten, sogar

katholisch werden wollte. Und ich hatte geglaubt, ihr auf eine Weise geschmeichelt

die fast zu weit ging. Sie sagte, es ginge jetzt nicht mehr um sie und um mich, sondern um die »Ordnung«.

Es war Abend, in einem Hotelzimmer in Hannover, in einem von diesen teuren Hotels, wo man, wenn man eine Tasse Kaffee bestellt, nur eine dreiviertel Tasse Kaffee bekommt. Sie sind in diesen Hotels so fein, daß eine volle Tasse Kaffee als ordinär gilt, und die Kellner wissen viel besser, was fein ist, als die feinen Leute, die dort die Gäste spielen. Ich komme mir in diesen Hotels immer vor wie in einem be- sonders teuren und besonders langweiligen Internat, und ich war an diesem Abend todmüde: drei Auftritte hintereinander. Am frühen Nachmittag vor irgendwelchen Stahlaktionären, nachmittags vor Lehramtskandidaten und abends in einem Variete, wo der Applaus so matt war, daß ich den nahenden Untergang schon heraushörte. Als ich mir in diesem dummen Hotel Bier aufs Zimmer bestellte, sagte der Oberkellner so eisig am Telefon: »Jawoll, mein Herr«, als hätte ich Jauche gewünscht, und sie brachten mir das Bier in einem Silberbecher. Ich war müde, ich wollte nur noch Bier trinken, ein bißchen Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, ein Bad nehmen, die Abendzeitungen lesen und neben Marie einschlafen: meine rechte Hand auf ihrer Brust und mein Gesicht so nah an ihrem Kopf, daß ich den Geruch ihres Haars mit in den Schlaf nehmen konnte. Ich hatte noch den matten Applaus im Ohr. Es wäre fast humaner gewesen, sie hätten alle den Daumen zur Erde gekehrt. Diese müde, blasierte Verachtung meiner Nummern war so schal wie das Bier in dem dummen Silberbecher. Ich war einfach nicht in der Lage, ein weltanschauliches Gespräch zu führen.

»Es geht um die Sache, Hans«, sagte sie, etwas weniger laut, und sie merkte nicht einmal, daß › Sache ‹ für uns eine bestimmte Bedeutung hatte; sie schien es vergessen zu haben. Sie ging vor dem Fußende des Doppelbettes auf und ab und schlug beim

Gestikulieren mit der Zigarette jedesmal so präzis in die Luft, daß die kleinen

grünen Pullover sah sie schön aus: die weiße Haut, das Haar dunkler als früher, ich sah an ihrem Hals zum erstenmal Sehnen. Ich sagte: »Sei doch barmherzig, laß mich erst mal ausschlafen, wir wollen morgen beim Frühstück noch einmal über alles reden, vor allem über die Sache«, aber sie merkte nichts, drehte sich um, blieb vor dem Bett stehen, und ich sah ihrem Mund an, daß es Motive zu diesem Auftritt gab, die sie sich selbst nicht eingestand. Als sie an der Zigarette zog, sah ich ein paar Fältchen um ihren Mund, die ich noch nie gesehen hatte. Sie sah mich kopfschüttelnd an, seufzte, drehte sich wieder um und ging auf und ab.

»Ich versteh nicht ganz«, sagte ich müde, »erst streiten wir um meine Unterschrift unter dieses Erpressungsformular - dann um die standesamtliche Trauung - jetzt bin ich zu beidem bereit, und du bist noch böser als vorher.«

»Ja«, sagte sie, »es geht mir zu rasch, und ich spüre, daß du die Auseinandersetzung scheust. Was willst du eigentlich?« »Dich«, sagte ich, und ich weiß nicht, ob man einer Frau etwas Netteres sagen kann.

»Komm«, sagte ich, »leg dich neben mich und bring den Aschenbecher mit, dann können wir viel besser reden.« Ich konnte das Wort Sache nicht mehr in ihrer Gegenwart aussprechen. Sie schüttelte den Kopf, stellte mir den Aschenbecher aufs Bett, ging zum Fenster und blickte hinaus. Ich hatte Angst. »Irgend etwas an diesem Gespräch gefällt mir nicht - es klingt nicht nach dir!«

»Wonach denn?« fragte sie leise, und ich fiel auf die plötzlich wieder so sanfte Stimme herein.

»Sie riecht nach Bonn«, sagte ich, »nach dem Kreis, nach Sommerwild und Züpfner - und wie sie alle heißen.«

»Vielleicht«, sagte sie, ohne sich umzudrehen, »bilden deine Ohren sich ein, gehört zu haben, was deine Augen gesehen haben.«

»Ich versteh dich nicht«, sagte ich müde, »was meinst du.« »Ach«, sagte sie, »als ob

»Ich hab die Plakate gesehen«, sagte ich.


»Und daß Heribert und Prälat Sommerwild hier sein könnten, ist dir nicht in den Sinn gekommen?«

Ich hatte nicht gewußt, daß Züpfner mit Vornamen Heribert hieß. Als sie den Namen nannte, fiel mir ein, daß nur er gemeint sein konnte. Ich dachte wieder an das Händchenhalten. Mir war schon aufgefallen, daß in Hannover viel mehr katholische Priester und Nonnen zu sehen waren als zu der Stadt zu passen schien, aber ich hatte nicht daran gedacht, daß Marie hier jemand treffen könnte, und selbst wenn - wir waren ja manchmal, wenn ich ein paar Tage frei hatte, nach Bonn gefahren, und sie hatte den ganzen »Kreis« ausgiebig genießen können.

»Hier im Hotel?« fragte ich müde.


»Ja«, sagte sie.


»Warum hast du mich nicht mit ihnen zusammen gebracht?«


»Du warst ja kaum hier«, sagte sie, »eine Woche lang immer unterwegs - Braunschweig, Hildesheim, Celle ...«

»Aber jetzt habe ich Zeit«, sagte ich, »ruf sie an, und wir trinken noch was unten in der Bar.«

»Sie sind weg«, sagte sie, »heute nachmittag gefahren.«


»Es freut mich«, sagte ich, »daß du so lange und ausgiebig ›katholische Luft‹ hast atmen können, wenn auch importierte.« Das war nicht mein, sondern ihr Ausdruck. Manchmal hatte sie gesagt, sie müsse mal wieder katholische Luft atmen.

»Warum bist du böse«, sagte sie; sie stand immer noch mit dem Gesicht zur Straße, rauchte schon wieder, und auch das war mir fremd an ihr: dieses hastige Rauchen, es war mir so fremd wie die Art, in der sie mit mir sprach. In diesem Augenblick hätte sie Irgendeine sein können, eine Hübsche, nicht sehr Intelligente,

die irgendeinen Vorwand suchte, um zu gehen.

Sie sagte nichts, nickte aber, und ich konnte genug von ihrem Gesicht sehen, um zu wissen, daß sie die Tränen zurückhielt. Warum? Sie hätte weinen sollen, heftig und lange. Dann hätte ich aufstehen, sie in den Arm nehmen und küssen können. Ich tat es nicht. Ich hatte keine Lust, und nur aus Routine oder Pflicht wollte ich's nicht tun. Ich blieb liegen. Ich dachte an Züpfner und Sommerwild, daß sie drei Tage lang mit denen hier herumgeredet hatte, ohne mir etwas davon zu erzählen. Sie hatten sicherlich über mich gesprochen. Züpfner gehört zum Dachverband katholischer Laien. Ich zögerte zu lange, eine Minute, eine halbe oder zwei, ich weiß nicht. Als ich dann aufstand und zu ihr ging, schüttelte sie den Kopf, schob meine Hände von ihrer Schulter weg und fing wieder an zu reden, von ihrem metaphysischen Schrecken und von Ordnungsprinzipien, und ich kam mir vor, als wäre ich schon zwanzig Jahre lang mit ihr verheiratet. Ihre Stimme hatte einen erzieherischen Ton, ich war zu müde, ihre Argumente aufzufangen, sie flogen an mir vorbei. Ich unterbrach sie und erzählte ihr von dem Reinfall, den ich im Variete erlebt hatte, dem ersten seit drei Jahren. Wir standen nebeneinander am Fenster, blickten auf die Straße hinunter, wo dauernd Taxis vorfuhren, die katholische Komiteemitglieder zum Bahnhof brachten: Nonnen, Priester und seriös wirkende Laien. In einer Gruppe erkannte ich Schnitzler, er hielt einer sehr fein aussehenden alten Nonne die Taxitür auf. Als er bei uns wohnte, war er evangelisch. Er mußte entweder konvertiert sein oder als evangelischer Beobachter hier gewesen sein. Ihm war alles zuzutrauen. Unten wurden Koffer geschleppt und Trinkgelder in Hoteldienerhände gedrückt. Mir drehte sich vor Müdigkeit und Verwirrung alles vor den Augen: Taxis und Nonnen, Lichter und Koffer, und ich hatte dauernd den mörderisch müden Applaus im Ohr.

Marie hatte längst ihren Monolog über die Ordnungsprinzipien abgebrochen, sie rauchte auch nicht mehr, und als ich vom Fenster zurücktrat, kam sie mir nach, faßte

mich an der Schulter und küßte mich auf die Augen. »Du bist so lieb«,

sagte sie »so lieb und so müde«, aber als ich sie umarmen wollte, sagte sie leise:


»Bitte, bitte, nicht«, und es war falsch von mir, daß ich sie wirklich losließ. Ich warf mich in den Kleidern aufs Bett, schlief sofort ein, und als ich am Morgen wach wurde, war ich nicht erstaunt darüber, daß Marie gegangen war. Ich fand den Zettel auf dem Tisch: »Ich muß den Weg gehen, den ich gehen muß.« Sie war fast fünfundzwanzig, und es hätte ihr etwas Besseres einfallen müssen. Ich nahm es ihr nicht übel, es kam mir nur ein bißchen wenig vor. Ich setzte mich sofort hin und schrieb ihr einen langen Brief, nach dem Frühstück noch einen, ich schrieb ihr jeden Tag und schickte die Briefe alle an Fredebeuls Adresse nach Bonn, aber ich bekam nie Antwort.


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